Vortrag des LV-Schulungsleiters, Manfred Grass, während der LV-Schulung am 20. April 2008

Allgemeine Beurteilung des Kaninchens

Es ist eine Eigentümlichkeit der Rassekaninchenzucht, dass sich die Rassen meist nur durch die Fellfarben unterscheiden, während die Körperformen innerhalb der Größenordnung der Kaninchen nahezu übereinstimmen. Jedoch ist zu unterscheiden zwischen den Grundformen gedrungen und gestreckt, sowie den Zwischenformen leicht gedrungen und leicht gestreckt, die jeweils den  Rassetyp mit definieren. Das Idealbild für Groß und Klein ist die Walzenform, die durch annähernd gleiche Breite und Höhe des Rumpfes bestimmt wird. Diese Tatsache erleichtert die Darstellung der Beurteilungslehre, die uns in den folgenden Abschnitten beschäftigen soll. Wir können viele Merkmale allgemein erläutern. Ein nochmaliges Besprechen bei den einzelnen Rassen erübrigt sich daher. Nur bei jenen wenigen Rasseschöpfungen, die von der Norm abweichen, wird jeweils auf das rassespezifische Erscheinungsbild eingegangen werden. Wenn wir ein Kaninchen beurteilen sollen, haben wir uns zunächst ein allgemeines Bild über seinen Zustand zu machen.

Der so genannte "Erste Blick"

Für den erfahrenen Züchter/Züchterin spielt der erste Blick eine entscheidende Rolle.

Was verstehen wir unter diesem Begriff?

Bei der ersten Besichtigung des Rassekaninchens, das auf den Richtertisch gesetzt wird, überfliegt unser Auge den Körper des Tieres in seiner Gesamtheit. Wir betrachten schnell von der Vorhand ausgehend Kopf, Hals und Schultergürtel und dann den Rumpf, also die Mittelhand, um schließlich ebenso rasch die Vorzüge der Nachhand zu erfassen. Das alles geschieht in Sekundenschnelle. Sachkenntnis und Erfahrungen helfen uns dabei ebenso wie die eingeübte Fähigkeit des Erkennens und Vergleichens. Nur so sind Harmonie des Körperbaus und Linienführung der Gesamterscheinung zu beurteilen. Auf die Gesamterscheinung des Tieres kommt es zunächst an. Sie verrät uns seinen Typ. Er muss hinsichtlich Größe dem Zuchtziel entsprechen. Die Länge des Tieres ergibt zusammen mit der Höhe den Rahmen, während seine kräftige Entwicklung im Knochenbau und Muskelbildung auf die Substanz schließen lässt. Die Substanz zeigt sich in einem tiefen und breiten Rumpf sowie in stark bemuskelten, kräftigen Gliedmaßen. Unter Format versteht man das richtige Verhältnis der Rumpfhöhe zur Rumpflänge, dass ein liegendes Rechteck darstellt. Diese erste Besichtigung umfasst nur den Gesamtkörperbau und sucht noch nicht nach besonderen Feinheiten oder Mängeln, die im Standard einzeln aufgeführt sind. Wo sie sich dem "Ersten Blick" aufdrängen, werden sie schweigend registriert. Wer das vorgeschriebene Idealbild und den Typ der Rasse in guter Erinnerung hat, wird sich sofort darüber klar sein, ob das vorgestellte Tier durch harmonischen Bau besticht.    

Der erste Blick soll weiter nichts bezwecken.

 

Beurteilung des Rumpfes und der Gliedmaßen

Beim Kaninchen bezeichnen wir im Bewertungswesen als Rumpf die gesamte Körperpartie, die von Schultergürtel, Brust, Bauch, und Beckengegend gebildet wird. Bei den übrigen Haustieren gehören die Gliedmaßenteile nicht zum Rumpf. Größere Rassen haben einen längeren und höheren Rumpf als Kleinere. Aber von allen wird ein walzenförmiger Körper gefordert. Er soll von der Schulter aus in gleicher Breite bis zum Becken verlaufen und namentlich in Breite und Höhe übereinstimmen. Man kann diese auf Fleischproduktion gerichtete Forderung nach Breite am besten feststellen, wenn man das am Fußboden befindliche Kaninchen in seiner üblichen Hocklage von oben betrachtet. Sein Körper darf sich hierbei weder nach vorn noch nach hinten verjüngen oder zuspitzen, sondern soll vielmehr in Schulter- und Beckengegend die gleiche Breite aufweisen.

Die Rumpfform von oben gesehen

Links: Gute Walzenform: Schulter- und Beckengürtel etwa gleiche Breite. Beckenverlauf zur Blume wenig schmaler werdend.

Links: Unerwünschte Rumpfform: der Körper verjüngt sich vom Beckengürtel aus in Richtung Schultern. Schultergürtel zu schmal, Rücken flach abgedacht. Das Becken selbst verengt sich stark nach hinten.
       

Links: Forderung für den Fleischtyp: Höhe ist gleich Breite.

Links: Wirtschaftstyp des Rassekaninchens: Walzenform, von oben gesehen.

Der Fleischtyp ist nicht an eine bestimmte Größe gebunden. Man erkennt ihn daran, dass Schulterblätter, Lendengegend und Hinterkeulen, die den Höchstanteil an der Lebendmasse haben, gut bemuskelt sind. Die Höhe des Rumpfes soll der Breite des Körpers entsprechen (= 1 : 1). Dieser Wunsch ist erfüllbar und hat auch seine Berechtigung. Ein weiteres Konstruktionsbild betrifft das Verhältnis der Körperlänge zu Höhe und Breite, das 3 : 1 : 1 betragen soll. Dieses Konstruktionsbild wurde früher einmal als Nutztypformel bezeichnet. Es findet sich in fast allen Büchern über Kaninchenzucht, ist aber in seiner starken Schablonenhaftigkeit abzulehnen. Das heißt nun nicht, dass die Beachtung einer gewissen Regelmäßigkeit in der äußeren Beschaffenheit des Körpers zur Auslese der Zuchttiere gänzlich überflüssig wäre. So ist auch beim Kaninchen die Ebenmäßigkeit und die ausgeglichene Körpergestalt für seinen Nutzwert vorteilhaft. Die walzenförmigen Umrisse des Kaninchenkörpers sind gutzuheißen und machen die Beachtung der angeführten Zahlenwerte unnötig, einerlei ob eine Rasse die kurze oder die lange Walze erkennen lässt. In der Bewertung des Rumpfes wird vor allem das von der Seite sichtbare Profil der Rückenlinie beachtet. Diese Rückenlinie beginnt in der Schulterblattgegend, steigt dann leicht in Richtung der Lendengegend an, um mit schöner Rundung, also ohne Eckenbildung, über das kreuz und die Kruppe zu verlaufen.

Rumpfquerschnitt

Links: Walzenform (obere Umgrenzung = Fell, untere Linie stellt die breit gewölbten Rippenbögen dar).

Rechts: Zu schmales Brustskelett bedingt seitlich stark abgedachten Rücken.

 

Die Rückenpartie des Kaninchens

Die folgenden Abbildungen zeigen zunächst den gewünschten gut geschwungenen Rückenverlauf und in den übrigen Zeichnungen die verschiedenen Mängel.


Normal geformter Rücken

Eingefallene Rückenlinie

Abschüssige Hinterpartie

Steil abfallende Hinterpartie

Aufgeworfene Rückenlinie

Lockere Schulterpartie

Die Zeichnungen weisen darauf hin, dass der Rücken des Kaninchens in seinem geschwungenen Verlauf nach zwei Schwerpunkten zu beurteilen ist. Da ist einmal die Stelle oberhalb der Schulterblätter und zum anderen die Kreuz- und Kruppengegend (siehe o. a. Abbildungen). Die unter dem Schulterblatt liegende Muskulatur, die das Schulterblatt fest an seine Unterlage, die seitliche Rippenwand, heranzuziehen hat, muss straff sein. Ist sie schlaff, so kann das Schulterblatt die Last der Vorderhand nicht tragen. Es weicht nach oben aus und ragt hier über die Rückenlinie Hinaus. Dadurch entsteht eine Wölbung der Rückenlinie im Bereich der Widerristgegend, die wir als lockere Schulterpartie ansprechen. Bewegt sich das Kaninchen mit der losen Schulter, so sehen wir, wie sich der Schulterblattknorpel bei Belastung der Schultergliedmaßen nach aufwärts schiebt und bei Entlastung wieder abwärts gleitet. Ein weiteres Abweichen von der idealen Rückenlinie ist festzustellen, wenn die Rückenwirbelsäule rachitisch verändert ist. Wir finden hier entweder die nach unten gebogene Wirbelsäule, die eingefallene Rückenlinie, oder umgekehrt eine Wölbung der Rückenwirbelsäule nach oben, die aufgeworfene Rückenlinie. Von der Lendengegend aus soll die Rückenlinie schön gerundet zur Blume verlaufen. Wenn die Wölbung der Lendenwirbelgegend nicht vorhanden ist, sprechen wir von einer abschüssigen Hinterpartie.

Er ist nicht mit der steilen Kruppe zu verwechseln, die vorwiegend die Folge zu steil erstellten Hüft- und Kreuzbeins ist (siehe nachfolgende Abbildung). Die Hüfthocker überragen dann den letzten Lendenwirbel und das Kreuzbein, wodurch die die Rückenlinie eine "Ecke" erhält (eckige Hinterpartie). Die den Rücken entlang gleitende Hand des Beurteilers stößt an den hier auch sichtbaren Hüfthocker deutlich an.
Dieser Skelettmangel vererbt sich und kann selbst bei bester Fütterung nicht beseitigt werden.
Natürlich sind auch die normal gelagerten Hüfthocker durch das Fell zu fühlen. Sie unterscheiden sich aber von den mangelhaften dadurch, das die prüfende Hand über sie hinweg gleitet, ohne an ihnen hart anzustoßen. Außerdem modellieren sie sich nicht als Vorsprünge durch das Fell hindurch (normal geformter Rücken). Hinter den Hüfthockern des Beckens erreicht die Rückenlinie die Kreuzbeingegend, die in der Beurteilungslehre als Kruppe bezeichnet wird. Beim Kaninchen befindet sie sich ungefähr dort, wo die Spitze der aufwärts gestellten Blume anliegt. Die Kruppe ist bei guter Bemuskelung gut ausgefüllt, ihr Profil ist dann sanft geschwungen und abgerundet. Aber vielfach fällt auch sie steil ab. Man spricht dann von einer abfallenden Hinterpartie.

Darmbeine zu steil gestellt:
Hüfthöcker überragen das Kreuzbein. Die gestrichelte Linie gibt die Kreuzbeinhöhe an.
Rechts: Draufsicht auf Hüfthöckergegend  (Eckenbildung).

Es sei noch bemerkt, dass die Rammler aller Rassen etwas kürzere Körper haben als die Häsinnen.
Bei der Beurteilung des Rumpfes ist auch auf Unterbrust und Bauch zu achten. Die Brust soll möglich tief herabreichen und der Bauch der Nutzrassen nicht aufgezogen sein. Diese Forderung erfüllen fast alle Rassen in normaler Stellung. Der ausgeprägte Bauch ist die Voraussetzung für einen gut entwickelten Verdauungsapparat, der eine reiche gute Futteraufnahme zulässt und die damit verbundene gute Fleischproduktion ermöglicht. Die hohe Stellung , die bei manchen Rassen gewünscht wird, darf nicht durch ungenügende Entwicklung von Brusttiefe und Bauch vorgetäuscht werden. Das Tier soll sie durch deutliches Aufrichten selbst zeigen. Das ist besonders beim Hase4bkaninchen ausgeprägt und wird auch vom Deutschen Riesenkaninchen verlangt, obwohl seine anatomische Beschaffenheit auf Wirtschaftlichkeit umgestellt wurde. Hasenkaninchen sind die einzige Rasse, für die der hochgezogene Leib in den Bewertungsbestimmungen noch gefordert wird. Wenn das auch ein sportliches Zuchtziel früherer Jahrzehnte war, kann es heute um der Verbreitung der Rasse willen nicht mehr als Bewertungsvorteil angesehen werden. Grundsätzlich gilt für alle Rassen, dass die wirtschaftliche Walzenform des Rumpfes völlig unabhängig davon ist, in welcher Haltung und Stellung sich das Tier befindet. Die Walze kann am Boden liegen, sie bleibt aber auch eine Walze, wenn man sie vorn hoch lagert.

 

Die Zähne des Kaninchens

Für den Züchter, die Züchterin ist es wichtig zu wissen, dass die Nagezähne ständig wachsen. Bei den wildlebenden Nagetieren schleifen sie sich durch den natürlichen Gebrauch ab. Geben wir dem Hauskaninchen nicht die Möglichkeit, Zweige und Äste abzuschälen und ihre Nagezähne abzunutzen, so nagen sie instinktiv an allen Holzteilen des Käfigs. Sie verhindern so, dass ihre Nagezähne zu lang werden, wodurch das Schließen der Mundhöhle erschwert oder gar verhindert würde. Auf diese weise bleiben die Zähne des Kaninchens in der physiologisch richtigen Größe. Das Beknabbern des Holzkäfigs ist somit die Folge einer ungenügenden Pflege. Das Wachstum von Nagezähnen, die sich nicht abschleifen, kann man beobachten, wenn der Unterkiefer im Verhältnis zum Oberkiefer zu kurz oder zu lang ist.

Es handelt sich um eine Missbildung.

Die Nagezähne können sich nicht abschleifen und wachsen infolgedessen sehr lang aus. Sie st0ßen gegen die Weichteile des Oberkiefers und werden hierdurch von ihrer Wachstumsrichtung abgebogen. Sie werden krumm und stellen ein schmerzhaftes Hindernis dar, dass sich immer mehr verstärkt, die Nahrungsaufnahme einengt und zu Abmagerung führt. Es ist sinnlos, den bedauernswerten Tieren die Nagezähne kürzen zu lassen, weil die Ursache, der verkürzte Kiefer, nicht beseitigt werden kann (siehe folgende Abbildung).

Die Knochen des Schädels mit Missbildung des Unterkiefers und der daraus resultierenden Nichtabnutzung der Nagezähne in Ober und Unterkiefer.
1. Hinterhauptsbein
2. Scheitelbein
3. Stirnbein (zwischen den Augen)
4. Jochbein
5. Nasenbein
6. Oberkieferbein
7. Stiftförmige Zähne (hintere Nagezahnreihe)
8. Kinngegend
9. Unterkiefer

 

 

Bei der Geburt bringt das Kaninchen bereits die vier großen Nagezähne mit. Das ist erklärlich, denn in der freien Wildbahn müssen Jungtiere sehr bald auf Futtersuche gehen. Die Zähne sind bleibende Zähne und werden im Leben nicht wieder gewechselt. Ein solcher Wechsel der Nagezähne wäre für das Wildlebende Kaninchen ein großer Nachteil. Das Kaninchen hat in einer Mundhälfte 14 Zähne und im gesamten Mundraum 28 Zähne.

 

Die Körperteile des Kaninchens

1. Stirn
2. Nasenrücken
3. Nasenöffnung
4. Lippen
5. Kehlgegend
6. Backe
7. Nacken
8. Schulterblatt; Knorpelgegend
9. Schulterblattbereich
10. Rücken
11. Lendenbereich

 

12. Flanke
13. Kreuzgegend (Kruppe)
14. Ferse
15. Mittelfuß
16. Hinterzehen
17. Bauch
18. Ellenbogengegend
19. Unterarm
20. Vorderzehen
21. Oberarmgegend
22. Vorderbrust

 

     

Das Skelett des Kaninchens

23. Unterkiefer, 24. Oberkiefer, 15. Augenhöhle, 26. Stirnbein, 27. Halswirbel, 28. Brustwirbel, 29. Schulterblatt, 30. Lendenwirbel, 31. Hüfthöcker, 32 Kreuzbein, 33. Schwanzwirbel, 34. Rippenbogen, 35. Oberarmbein, 36. Unterarm: Elle, 37. Unterarm: Speiche, 38. Vorderfußwurzel, 39. Vordermittelfußknochen, 40. Vorderzehen, 41. Oberschenkelbein, 42. Kniescheibe, 43. Unterschenkel: Schienbein, 44. Unterschenkel: Wadenbein, 45. Fersenbein, 46. Fußwurzelgelenk, 47. Mittelfußknochen, 48. Hinterzehen.